Schneckenhaus und Lernprozess - Gedankenspiele zum Geburtstag von Hermann Hesse

Am 2. Juli wäre der Literaturpreisträger 148 Jahre alt geworden. Grund genug, um zu einem Geburtstagsumtrunk mit Lesung in das Foyer der Kolping Akademie einzuladen. Im Rahmen von „Würzburg liest ein Buch“, in dessen Mittelpunkt 2025 der Roman „Narziss und Goldmund“ steht, stellten Dr. Sigrid Mahsberg und Cornelia Wehrhahn in ihrer Lesung mit dem Titel „Die anderen und der Weg zum Ich“ ihre von dem Roman inspirierten Bezüge und „Gedankenspiele“ über das Lernen vor.

Ausgangspunkt war eine kurze Textstelle des Romans, wo Goldmund auf einer Wiese liegend versonnen ein Schneckenhaus betrachtet. Auch jeder Gast erhielt ein Schneckenhaus, um es beim Zuhören ebenso sinnlich erfassen zu können: die Vielfalt in Größe und Farben, die Rundungen und Kerben, die Schönheit der Formen.

Goldmund raisonniert dabei über den Unterschied zwischen dem Verstand mit seiner flächigen, linearen Logik und der vieldimensionalen Sinnlichkeit und Erfahrung in der Lebenspraxis. Weitere Zitatstellen aus dem Roman verdeutlichen dies anhand der Lebenswege von Narziss, der der Wissenschaft und Philosophie in der Ruhe und Sicherheit seines Klosters verhaftet bleibt, und von Goldmund auf seiner langjährigen Wanderschaft voller Umbrüche, Widersprüche und Begegnungen mit anderen Menschen. Beide Protagonisten könnten nicht verschiedener sein und gerade darum braucht einer den anderen als Ergänzung und Widerpart. Die Reflexion darüber setzt aber bei ihnen den erst nach Goldmunds Rückkehr in das Kloster und kurz vor seinem Tod ein. Hesse zeigt eindrucksvoll, dass Lernen weit mehr ist als Theorie und Erwerb von Wissen. 

Welche Schlussfolgerungen können daraus gezogen werden? Gerade das Zusammentreffen mit dem Neuen, dem Fremden, wirft Fragen auf, setzt die Suche nach Lösungen in Gang, regt zum Nachdenken und Nachforschen an. Der Religionsphilosoph Martin Buber beschreibt in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ (1923) Lernen daher auch als Dialog mit dem Anderen.

Die Form der Schnecke ist von Hesse in der kleinen Textstelle sehr bewußt gewählt: Situationen auf dem Lebensweg von Goldmund scheinen sich zu wiederholen, aber er sieht sie aufgrund seiner gewonnen Erfahrungen jeweils neu, mit anderen Augen, kann sie anders einschätzen und anders auf sie reagieren. So erweist sich die Spiralform für jeden Lernfortgang als eindrückliches Bild. Lernen vollzieht sich in spiralförmiger Struktur.

Die Hermeneutik verwendet dieses Bild für die Interpretation von Texten. Hans Hunfeld hat dieses Bild in seinem Hauptwerk „Fremdheit als Lernimpuls“ (2004) für den Lernvorgang überhaupt übertragen und die Haltung des hermeneutischen Lehrens und Lernens daraus entwickelt. Gemeinsam mit ihm hat eine Entwicklungsgruppe des Kolping-Bildungswerk Bayern über zehn Jahre hinweg die Anwendung im Fremdsprachenunterricht vor allem in den stark heterogenen Deutschsprachkursen für Migrant*innen erfolgreich erprobt. Vielfalt wird hier als Gewinn und nicht als Problem verstanden und ihre bedeutende Rolle als Lernfaktor herausgearbeitet. Fazit: Über die Begegnung mit den anderen führt der Weg zum Ich.

Damit wurde am Ende der Lesung der Bogen von Hermann Hesse, von der Schnecke und der Hermeneutik zu der Kolping Akademie als Träger eines umfangreichen Bildungsangebot geschlagen und somit ein ganz besonderer Aspekt dieses Bildungsromans in den Mittelpunkt gerückt. Das Publikum zeigte durch langanhaltenden Applaus und viele Diskussionsbeiträge seine große Zustimmung zum Verlauf des Abends.